Frau Müller-Möhl, was ist Ihre persönliche Motivation, sich für die Gleichstellung von Frau und Mann einzusetzen?

Obwohl Gleichstellung ein Menschenrecht ist und wir uns mit dem Schweizer Gleichstellungsgesetz von 1996 konkret verpflichtet haben, eine Gleichstellung in absehbarer Zeit zu realisieren, sind wir heute noch nicht gleichgestellt. Das heisst, wir müssen weltweit weiter Diskriminierungen abschaffen und weiter Strukturen aufbauen, die eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie ermöglichen. Mir ist bewusst, dass es sich um ein Generationenprojekt handelt, weshalb meine Stiftung auch in diesem Jahr erneut einen Fokus auf unser Förderthema „Vereinbarkeit von Beruf und Familie“ legt. 2021 gründeten wir die taskforce4women, mit dem Ziel die Vereinbarkeit von Beruf und Familie (in der Wirtschaft, Politik, Gesellschaft, Kultur, Medien und Wissenschaft) stetig zu verbessern und eine in allen Belangen gelebte Gleichstellung zu erreichen.

Wo stehen wir beim Thema „Vereinbarkeit von Beruf und Familie“ in der Schweiz/Liechtenstein?

Trotz unseres Einsatzes seit über 20 Jahren sind wir nicht allzu weit vorangekommen, wenn auch das Thema heute zumindest rezipiert und in seiner gesellschaftlichen Relevanz besser eingeschätzt wird. Während wir in sämtlichen Rankings des WEFs auf den ersten drei Rängen sind, steht die Schweiz im Global Gender Gap Index 2022 nur auf Platz 13. Besonders schlecht schneiden wir bei der Partizipation von Frauen in der Wirtschaft und ihrer Vertretung im Topmanagement ab. Da liegen wir sogar auf Platz 47. Hier müssen wir dranbleiben!

In den vergangenen sechs Jahren ist die Zahl der Frauen in Geschäftsleitungen von Schweizer Unternehmen von 5 auf 9 Prozent gestiegen. Ist die Schweiz auf dem richtigen Weg?

Wenn die Zahl ansteigt, dann klar. Trotzdem ist es mit den Bemühungen nicht weit her und zusehends erkenne ich eine gewisse Stagnation und Gereiztheit gegenüber diesem Thema. Mit ihrem einzigartigen politischen System hat die Schweizer Stimmbevölkerung, die bekanntlich zur Hälfte aus Frauen besteht, prinzipiell die Möglichkeit, einen politischen Wandel herbeizuführen.

An welchen Schrauben müsste die Politik drehen, um Gleichstellung sowie Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu verbessern?

Es gibt in der Schweiz zwei wesentliche Stellschrauben. Erstens: Die gemeinsame Besteuerung von Ehepaaren setzt für zahlreiche Zweitverdienende, und das sind meist Frauen, negative Erwerbsanreize. Zweitens: Die Krippen sind zu teuer und Ganztagesschulen nicht überall zu finden. Die OECD empfiehlt uns daher seit Jahren die Einführung einer Individualbesteuerung, die positive Erwerbsanreize setzt, u.a. für die geschätzten 50 000 Akademikerinnen in der Schweiz, die heute nicht berufstätig sind. Ausserdem werden von den OECD-Experten immer wieder eine bezahlbare externe Kinderbetreuung und schweizweite Ganztagesschulen gefordert. Mit der letztjährigen Einreichung der Volksinitiative zur Einführung der Individualbesteuerung, an dessen Entstehung meine Stiftung massgeblich beteiligt war, haben wir jedoch einen entscheidenden Schritt vorwärts gemacht.

Warum ist es in der Schweiz im Vergleich zu anderen Ländern so schwierig, Beruf und Familie unter einen Hut zu bringen?

Wir sind eine konservative Gesellschaft. Ein modernes Rollenverständnis, nämlich eine ausgeglichene Verteilung familiärer Pflichten und beruflicher Chancen auf Männern und Frauen, hat sich noch nicht durchgesetzt. Auch weil wir es uns leisten können. Die National- und Ständeratswahlen 2019 haben eine neue Generation von jungen Politikerinnen und Politikern zur Macht verholfen, die dem althergebrachten Familienmodell wohl weniger nachhängen dürfte. Diesen Wandel begrüsse ich sehr und ich hoffe, dass sich politisch in Sachen Beruf und Familie einiges ändern wird. Aus volkswirtschaftlicher Betrachtung bedeutet Gleichstellung mehr Arbeitsproduktivität, eine Eindämmung des zunehmenden Fachkräftemangels und ein Abrufen der getätigten und kostspieligen Bildungsinvestitionen in die Bevölkerung allgemein und Frauen insbesondere.

Teilen Sie die Einschätzung, dass viele Frauen gar nicht Karriere machen wollen, weil ihnen der Preis dafür zu hoch ist?

Was vielen nicht bewusst ist: Den Preis, den Frauen zahlen, wenn sie gar nicht berufstätig sind, ist um ein vielfaches höher! Studien belegen: Zu den am meisten gesundheitlich und finanziell gefährdeten Personen gehören Frauen,  die vor der Rente nicht genug finanzielle Ressourcen zurückgelegen konnten, weil sie zu geringen Pensen gearbeitet oder gar nicht berufstätig waren. Untersuchungen kommen zu dem Schluss, dass alleinerziehende Mütter, die Vollzeit arbeiten bei besserer Gesundheit sind und finanziell unabhängiger sind, als Frauen, die nur einem Teilzeitpensum nachgehen. Kurz um: Arbeiten zahlt sich für Frauen in allen Aspekten aus. Wenn man dabei noch Karriere machen kann, dann erst recht.

Sie selbst gehören zu den wenigen Frauen, die es an die Spitze der Schweizer Wirtschaftswelt geschafft haben. Was können andere Frauen von Ihnen lernen?

In erster Linie, dass es auch für Frauen möglich ist, Karriere, Beruf und Familie unter einen Hut zu bekommen.

Sind Sie eine Befürworterin von Frauenquoten?

Persönlich vertrete ich eine liberale Position und ich will gesetzliche Regelungen nur mit Sorgfalt und Bedacht eingesetzt sehen. Angesichts der geringen Vertretung von Frauen in Führungspositionen und den schleppenden gesellschaftlichen Veränderungen kann ich mir heute sogenannte Übergangsquoten durchaus vorstellen. Das Schweizer Aktienrecht wurde ja reformiert. In börsenkotierten Gesellschaften soll jedes Geschlecht im Verwaltungsrat zu mindestens 30 Prozent und in der Geschäftsleitung zu mindestens 20 Prozent vertreten sein. Eine Sanktion ist bei Nichterreichen der Richtwerte jedoch nicht vorgesehen, nur die Gründe dafür müssen angegeben werden. Ich finde es beschämend, dass der Gesetzgeber hier überhaupt tätig werden musste.

Worin sind Frauen besser als Männer? Mit welchen Eigenschaften bereichern Sie Teams?

Frauen machen es nicht besser, sondern anders, auch weil sie anders sozialisiert sind als Männer. Die Forschung ist sich uneinig darüber, ob es spezielle weibliche bzw. männliche Eigenschaften gibt. Erst kürzlich las ich in einem Bericht, dass der Unterschied von Mensch zu Mensch grösser ist, als derjenige von Frau zu Mann. Meine Erfahrung zeigt ganz einfach, dass gemischte Teams die besten Resultate erbringen und das Arbeiten dort (mir) am meisten Spass macht.

Welche weiblichen Eigenschaften sind bei Ihnen am stärksten ausgeprägt?

Ich gelte als mutige, kritische und kreative Denkerin, als jemand der gestaltet, initiativ ist und Verantwortung übernimmt. Sie können selbst entscheiden, was davon weiblich oder männlich ist.

Wie beurteilen Sie das Engagement heutiger junger Frauen, sich für ihre Rechte einzusetzen? Welchen Rat würden Sie Ihnen geben?

Angesichts der enormen Herausforderungen vor denen wir stehen, wie Klima, Umwelt, Ressourcen, Anstieg der Weltbevölkerung, kulturelle Konflikte, soziale Ungleichheit usw. sind wir alle auf die alternativen und unkonventionellen Lösungsansätze von jungen Menschen angewiesen, die diese in den gesellschaftlichen Diskurs einbringen. Je mehr engagierte junge Menschen, desto besser. Und junge Frauen sollten sich an der Urne für Gleichstellung und bessere Rahmenbedingungen für Familien und Beruf starkmachen und ihr Privileg, abstimmen zu dürfen, konsequent ausschöpfen.

Wie können Frauen in Unternehmen Ihre Sichtbarkeit erhöhen, damit Ihre Leistungen wahrgenommen und honoriert werden? Wie haben Sie das geschafft?

Man muss bereit sein, das eigene Können selbstbewusst zu kommunizieren. Falsche Bescheidenheit im Wettbewerb zahlt sich nicht aus. Man muss mutig sein, durchhalten, konfliktfähig sein. Und dann hilft es natürlich, wenn man in einer Organisation arbeitet, die ihre Mitarbeiter für Unconscious Bias, unbewusste Vorurteile, sensibilisiert. Denn trotz Leistung und Können stehen sie uns im Weg. Facebook zum Beispiel bietet interne Schulungen für Mitarbeitende an, um unbewusste Vorurteile zu erkennen und mit ihnen gekonnt umzugehen. So etwas braucht es überall.

Zur Person:

Carolina Müller-Möhl ist Investorin und Philanthropin. Sie gründete und leitet das Family-Office Müller-Möhl Group und die gemeinnützige Müller-Möhl Foundation. Sie engagiert sich vielfältig in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft und hat verschiedene Verwaltungsrats- und Stiftungsmandate inne, unter anderem bei der Fielmann AG, economiesuisse sowie den Universitäten Zürich und St. Gallen. 2021 gründete sie die taskforce4women, mit dem Ziel die Vereinbarkeit von Beruf und Familie in der Wirtschaft, Politik, Gesellschaft, Kultur, Medien und Wissenschaft stetig zu verbessern und eine in allen Belangen gelebte Gleichstellung zu erreichen.